Psychiatrie und Psychotherapie

Agieren und Spalten

Umgang mit schwierigen Patienten

Wer von uns kennt sie nicht, die Patienten, die uns mit unverkennbarem Misstrauen begegnen, die ihre Symptome so dramatisch vortragen, dass eine Genesung, selbst bei bester Fachkenntnis der Behandler, ausgeschlossen ist. Patienten, die sich wenige Stunden nach Aufnahme in der Klinik mit der Rasierklinge schneiden oder gar ihren baldigen Suizid ankündigen. Solche, die sich über ihr Zimmer, den Pflegemitarbeiter oder die Mitpatienten beschweren und drohen, die "Zustände" an die Öffentlichkeit zu bringen oder Patienten, die es verstehen, ihre Bezugspersonen außerhalb der Klinik dermaßen zu manipulieren, dass diese gegen Institution und Therapeuten mobil machen.

Was haben alle diese Menschen gemeinsam ? Sie fallen aus dem Rahmen der ärztlichen Grundannahme, dass sie ein passives Opfer der Krankheit sind und aktiv die Therapie unterstützen. Schnell ziehen sie unseren Zorn auf sich, sorgen für Gesprächsstoff bei Konferenzen und Teamsitzungen, füllen stundenlange Supervisionen und Balintgruppen. Man erinnert sich an solche Patienten. Sie betreten die Bühne und weigern sich, sie wieder zu verlassen.

Agieren ist eine Form des Widerstandes, der in der Psychiatrie häufig Patienten zugesprochen wird. Das Handeln ersetzt dabei das Verbalisieren. Der Agierende erlebt sich selbst als ich-synton, als stimmig, und ist mit sich und seinem Verhaltensmodus im Reinen. Er hat die Ebene der Selbstreflexion verlassen, ist von seinem Handeln getrieben, das oft impulsiv und gefährdend wirkt. Die Wahl zur Alternative ist blockiert, die Fähigkeit zum Anderssein momentan verloren. Agieren ist immer negativ konnotiert, weil Routineabläufe der Umgebung, z.B. einer psychiatrischen Aufnahmestation, gestört werden. Anzeigen und Beschwerden über den Rechtsweg, Einschaltung der Presse, Selbstverletzungen, Regelverstöße, Entweichungen, Konsum von Suchtstoffen oder geschickte Instrumentalisierung von Bezugspersonen, auch Klinikmitarbeitern, sind Beispiele für diese destruktive Betriebsamkeit agierender Patienten. Die Zuschreibung des Agierens erfolgt durch Behandler immer dann, wenn sie annehmen, dass Patienten unangemessen Aufmerksamkeit erreichen und sich in Szene setzen möchten. Es gilt als unprofessionell, mit zu agieren, d.h. die vorgegebene therapeutische Struktur zu verlassen und sich dem Patienten gegenüber einseitig unterstützend oder abweisend zu verhalten. Tatsächlich geraten Mitarbeiter des multiprofessionellen Teams sehr häufig in diese Beziehungsfalle, weil sie mit ihrer unterschiedlichen subjektiven Sichtweise, ihrer eigenen Biographie und ihrer beruflichen Erfahrung an Grenzen stoßen. Nicht selten kommt es dann innerhalb des Behandlungsteams zu erheblichen Spannungen und Differenzen, da der Umgang mit dem agierenden Patienten konträr beurteilt wird. Probate Mittel, dieser Falle zu begegnen, sind maximale teaminterne Transparenz, eine gemeinsame therapeutische Strategie und eine konsequente Umsetzung der getroffenen Absprachen. Auf diese Weise kann die "Inszenierung" entlarvt und unaufgeregt beobachtet werden.

Agieren ist ein habituelles Verhalten, das aus der bestehenden Struktur und Psychopathologie der Persönlichkeit hervorgeht. Es sind vor allem die sog. "frühen" Persönlichkeitsstörungen (dissoziale, narzisstische und Borderline-Störungen), denen ein primäres Entwicklungsdefizit gemeinsam ist, und die zu heftigen Widerständen in dieser impulsiven Form prädisponieren. Diese Patienten haben tiefe Einschnitte in ihrer frühen affektiven Entwicklung, z.B. durch Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlitten. Deshalb tragen ihre Beziehungen zu anderen Menschen oft Züge von Misstrauen, Täuschung und Verrat und sie sind kaum in der Lage, emotional tragfähige und vertrauensvolle Bindungen aufzubauen.

Spalten ist ein verbreiteter Abwehrmechanismus, der Teil des Agierens sein kann. Spalten bedeutet, dass die guten und die schlechten Eigenschaften eines Gegenübers und des Selbst nicht gleichzeitig gesehen werden können, sondern, dass die Welt und ihre Objekte in Gut und Böse aufgeteilt werden. Solche Patienten pendeln zwischen Überidealisierung und Verdammung ihrer Bezugspersonen sowie eigener Größenfantasien und Selbstentwertung.

Starke Kränkungserlebnisse können bei diesen Menschen destruktive Impulse und aggressives Verhalten freisetzen.

Abwehrmechanismen sind psychische Manöver, die wir alle ständig einsetzen, um Angst zu mindern und unser Weltbild überschaubar zu machen. Weder die Außenwelt noch die Dynamik unserer eigenen Psyche sind uns geheuer. Abwehrmechanismen werden benötigt, um alles auszublenden, was die Stabilisierung unseres Welt-und Selbstbildes bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit stört.

Spaltung ist ein sehr früher Mechanismus des Bewusstseins im Umgang mit der Realität. Der Säugling unterteilt grob in "gut" wie "satt und warm" oder "schlecht" wie "hungrig und kalt". In der weiteren Entwicklung erkennt das Kind, dass vieles nicht entweder-oder ist, sondern sowohl-als-auch. Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, zur Empathie und Differenzierung von eigenen und fremden Absichten (Theory of Mind) entsteht allmählich nach Vollendung des 2.Lebensjahres, dann nämlich, wenn sich das Kind als eigenständige Person begreift. Sachen und umgebende Personen werden von der reifenden Persönlichkeit als realistisch abgegrenzt und individuell wahrgenommen (Objektkonstanz).

Patienten mit dissozialer oder narzisstischer Persönlichkeitstörung, vor allem aber auch mit Borderline-Störung konnten den entscheidenden Entwicklungsschritt zur Überwindung der frühen Spaltung nicht vollziehen. Das Fehlen von Verantwortungsgefühl, Spontaneität, Selbstvertrauen und Aufrichtigkeit, als Merkmale gesunder Entwicklung, ist ihnen gemeinsam. Sie bedienen sich der Spaltung in Gut und Böse, um sich komplexe Entscheidungen und Ambivalenzkonflikte zu ersparen und haften am archaischen Organisationsprinzip ihres Weltbildes. Durch Beibehaltung des Spaltens kommt es zur Störung der Kompromissfähigkeit bei sozialen Konflikten, zur Störung der Beziehungsfähigkeit und Affektregulation, zu Selbstwertkrisen, Entwertung von anderen und zur Anfälligkeit für polarisierende Ideologien.

Spaltung von Behandlern, z.B. des multiprofessionellen Teams einer Therapiestation, wäre beispielsweise die Entwertung der Stationsärztin durch eine Patientin im Gespräch mit der Nachtschwester, die gleichzeitig von der Patientin für ihren Einsatz gelobt wird, und am nächsten Tag, der Wunsch dieser Patientin nach einem Therapeutenwechsel i.R. der Oberarztvisite, der dann ggfs. noch mit einer Beschwerde beim Ärztlichen Direktor gekrönt würde. Es ist leicht nachvollziehbar, dass diese Form der Infiltration, auch nur durch eine einzige Patientin, bereits erhebliche Anforderungen an die Professionalität und Geschlossenheit der verschiedenen Berufsgruppen einer Klinikeinheit stellt. Geradezu katastrophal wirkt es sich aus, wenn verschiedene Behandler, womöglich untereinander noch rivalisierend, unvernetzt und parallel am Patienten "herumdoktern".

Patienten mit Borderline-Störung spalten aufgrund ihres unendlich großen Bedürfnisses nach protektiver Behütung, dem nie in ausreichenden Maße entsprochen werden kann. Sie befinden sich stets in Warteposition auf die nächste Enttäuschung, die eintreffen muss, da die Umgebung ihren überzogenen Erwartungen nicht gerecht werden kann. Beschuldigende Feindseligkeit, häufig mit Autoaggression, ist dann die Folge.

Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung besteht aufgrund einer primären Selbstwertschwäche eine extreme Verletzlichkeit gegenüber Kritik und Zurückweisung und ein nie stillbares Verlangen nach Unterstützung und bewundernder Rücksichtnahme durch andere. Die Spaltung in Gut und Böse liegt nahe, da Personen, die nicht ausreichend bestätigend wirken, mit Verachtung gestraft werden müssen, um das subjektive Überlegenheitsgefühl um jeden Preis zu bewahren.

Die dissoziale Persönlichkeitsstörung ist durch ein extremes Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Durchsetzung eigener Interessen gekennzeichnet. Der Widerstand gegenüber Kontrolle durch andere geht mit ungezügelter Aggression einher. Parallel besteht die Fähigkeit, Menschen durch fassadenhafte, sozial erwünschte Eigenschaften zu blenden und zu manipulieren. Dissozialität schließt langfristige Bindungen und Empathie für andere aus. Die Spaltung zwischen gut und schlecht erfolgt ausschließlich aus der Warte selbstzentrierter Bedürfnisbefriedigung.

Der Umgang mit agierenden und spaltenden Patienten erfordert höchste Professionalität und Erfahrung. Diese Menschen verfügen über ein gut gefülltes Zornkonto. Es ihnen mit gleicher Münze zurückzuzahlen, wäre zutiefst untherapeutisch. Wie kann das Behandlungsteam die massive und emotional aufgeladene Gegenübertragung kontrollieren und konstruktiv nutzen ?

Was hier abläuft, kann nur systemisch verstanden werden. Nicht die Einzelaktionen (z.B. Manipulation, Sachbeschädigung, Autoaggression u.v.m.) des Patienten sind zu bewerten, sondern die Gesamtheit, das Muster des Handelns und der Interaktion muss dechiffriert werden. Wenn das gelingt, offenbart sich ein gestörtes Kommunikationssystem, in dem der Agierende immer der Unterlegene, der Schwächere ist und seine Zielpersonen in der überlegenen Mehrheit und durch die Institution geschützt sind. Allein diese Wahrnehmung sollte dem multiprofessionellen Team die nötige Souveränität vermitteln, um aus dem Teufelskreis herauszufinden. Der in seiner abwehrenden Fehlhaltung gefangene Mensch kann diesen Überstieg nicht alleine leisten. Warum ist das so ?

Wir alle erinnern uns daran, wie unsere Eltern uns behandelt haben und ob das ein Gefühl der wohltuenden Annäherung oder vermeidenden Ablehnung hervorgerufen hat. Diese erste Vorstellung über Beziehung, dieses Urmodell der Verständigung, übertragen wir unbewusst auf alle anderen Begegnungen und Beziehungen in unserem Leben, haben entweder eine positive oder eher negative Erwartungshaltung in unserem Inneren verankert.

Selbstrepräsentanz bedeutet die Art der persönlichen Sichtweise der eigenen Person, also das Selbstverständnis. Objektrepräsentanz beinhaltet Fantasien und Bilder, die ein Mensch von seinen Bezugspersonen entwickelt und mit welchen Grundannahmen er diesen begegnet. Beide Repräsentanzen müssen keineswegs mit der Realität übereinstimmen, sondern können erheblich davon abweichen und bereiten gerade dann den Boden für Fehlwahrnehmungen, Verzerrungen und Beziehungskonflikte.

Agierende Patienten sind oft aggressiv misstrauisch und widersetzen sich einer als primär "gefährlich und feindlich" wahrgenommenen Welt. Aus dem permanenten "Hab Acht Modus" und der Verteidigungsposition heraus erfolgt externale Schuldzuweisung und die Suche nach Verfehlungen der anderen. Das macht es für den Behandler schwierig, eine sachliche und rationale Ebene der Verständigung zu finden. Zu stark haben früher gemachte negative Erfahrungen und Misserfolge das Selbstbild dieser Patienten geprägt. Die intensive Furcht vor weiterer Demütigung und Zurückweisung muss abgewehrt werden. Kleinste Anlässe, z.B. die Reglementierung oder Verweigerung von Wünschen, genügen, um das Schwarz-Weiß-Denken zu triggern und die negative Erwartung zu bestätigen. Dann dominiert das von Wut getragene Selbstgefühl und die krankhafte Sehnsucht nach Überlegenheit, die lebenslang fortbesteht. Aber diese emotionale Aufforderung bleibt von der Umgebung unbeantwortet.

An der Stelle hilft dem Behandlungsteam die Erinnerung an das Krankheitsmodell sog." früher Persönlichkeitsstörungen". Demnach wird eine, in den ersten Lebensjahren durch Vernachlässigung, emotionale oder körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erworbene, individuelle und strukturell angelegte krankhafte Störung behandelt. "Strukturell" heißt, dass es ein überdauerndes Grundmuster der Persönlichkeit ist, welches diese Menschen selbst nicht beeinflussen können. Es handelt sich nicht um eine Lebenskrise, eine phasenhafte Erkrankung oder gar eine vorsätzliche und bewusste Arglistigkeit dieser schwierigen Klientel.

Analog zum Krankheitsmodell gibt es ein Behandlungsmodell. Danach ist derjenige gesund, der nicht (mehr) seine frühkindlichen Bindungstraumata und seine emotionale Zerissenheit nach außen projiziert, extreme Stimmungsschwankungen, vor allem Wut, vermindern bzw. regulieren und Beziehungen angstfrei eingehen kann. Das Therapieziel besteht darin, das inszenierte Verhalten der Agierenden immer wieder zu hinterfragen und zu minimieren. Der "Automatikmodus" muss aufgehoben werden. Die Behandler holen den sozial geächteten und sich selbst isolierenden "Kämpfer" zurück in die Gemeinschaft, indem sie selbst keine Angriffsfläche bieten. Die Entwicklung von angemessenem und reifem Verhalten wird durch ein konsequentes und klar definiertes Beziehungsangebot gefördert. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang "Therapieverträge", in denen schriftlich genau festgelegt wird, unter welchen Bedingungen die eine Vertragspartei was von der anderen Vertragspartei zu erwarten hat und umgekehrt. Hält der Patient den Vertrag ein, so werden seine spezifischen Bedürfnisse, soweit möglich, positiv verstärkt und validiert. Es ist eine Therapie der kleinen Schritte, die Herangehensweise erfolgt mittel-bis langfristig, da auch die massiven Entwicklungsdefizite über Jahre hinweg konsolidiert wurden. Es ist eine interaktionsorientierte Behandlung, d.h. es geht beim Agieren und Spalten weniger um die Symptome, sondern vielmehr um die Motive des Verhaltens. Um jene erforschen und mildern zu können, ist sehr viel Beziehungsarbeit erforderlich, die vor allem der Rückgewinnung von Vertrauen dient. Die Patienten, um die es hier geht, haben wesentliche Lebenserfahrungen in der Opfer-Rolle gesammelt und sich darin auch immer wieder bestätigt gefühlt. Der Beziehungsaufbau muss vom gesamten Behandlungsteam geschultert werden, und deshalb sind Transparenz und homogene, konsequente Umsetzung der Therapieziele unabdingbar. Ein solches wäre die Emanzipation, also die Befreiung vom Drang nach Kampf oder kompletter Verweigerung, die durch Autonomie und Mut zum ausgleichenden Kompromiss ersetzt würden.

Agierende und spaltende Patienten erinnern manchmal an beratungsresistente, pubertierende Jugendliche, die sich mit ihrem selbstzentrierten und bedürfnisorientierten Tunnelblick jeder rationalen Argumentation entziehen. Nicht zermürbende Grabenkämpfe sind hier das Rezept des Umgangs, sondern der Hinweis auf Eigenverantwortung mit Annahme jeweiliger Konsequenzen unter klar formulierten und transparenten Rahmenbedingungen. Diese Eckpunkte dürfen keinesfalls in inkonsequenter Weise gegenüber dem agierenden Patienten durch einzelne Mitglieder des Behandlungsteams zersetzt werden. Auch die aggressive Verurteilung und Konfrontation des Patienten von seiten der Professionellen ist zu vermeiden, um dem Beziehungsabbruch vorzubeugen.

Das Agieren ist immer das Privileg des Patienten, dem Therapeuten ist es untersagt !

September 2013